Überwachung in der Schweiz -
Ein aktueller Realitätsabgleich

24. Februar 2018 – Kire

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Digitale Gesellschaft

Die gemeinnützige Organisation informiert und berät zu Konsumenten- und Rechtsfragen im digitalen Raum, schätzt Technologiefolgen ab hinsichtlich der möglichen Auswirkungen auf die Grund- und Menschenrechte und bietet Dienste, Software-Projekte und Workshops zur «digitalen Selbstverteidigung» an.

Die Digitale Gesellschaft kämpft für unsere Freiheitsrechte in einer vernetzten Welt.

Übersicht

  • Überwachen im Strafverfahren
    • Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF)
    • Eidgenössische Strafprozessordnung (StPO)
  • Geheimdienstüberwachung
    • Nachrichtendienstgesetz (NDG)
  • Fazit: Was können wir tun?

Teil 1:
Überwachen im Strafverfahren

Unterscheidung

  • Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF)
    • Pflichten/Aufgaben von Dienst ÜPF und Provider
  • Strafprozessordnung (StPO)
    • Möglichkeiten der Untersuchungsbehörden

Teil 1a:
Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF)

«33C3 (030)» - Foto: Stephan Kambor-Wiesenberg, CC BY 2.0

Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF)

  • Telegraphen- und Telephonverkehrsgesetz (vor 1922)
  • Fernmeldegesetz (ab 1922)
  • Inkrafttreten BÜPF 2002 (nach 10 Jahren Diskussion)
  • Inkrafttreten BÜPF Revision am 1. März 2018
    • Verschiedene Übergangsfristen zur Umsetzung (maximal 24 Monate)

Heutiges BÜPF: Geltungsbereich

  • Gilt für Access Provider und die von ihnen angebotenen Dienste
    • Elektronische Postdienste (z.B. E-Mail und Instant Messaging)
    • Fernmeldedienste (z.B. Internet-Telefonie)

Revidiertes BÜPF: Erweiterter Geltungsbereich

  • Gilt zusätzlich auch für
    • «Anbieter abgeleiteter Kommunikationsdienste», die «eine Einweg- oder Mehrwegkommunikation ermöglichen» (= Jeder Informationsaustausch)
    • Personen, die ihren Zugang zu einem öffentlichen Fernmeldenetz Dritten zur Verfügung stellen

«Anbieter abgeleiteter Kommunikationsdienste»

  • Sind den Access Providern gleichgestellt, wenn entweder
    • 10 Überwachungsgesuche in einem Jahr vorlagen oder
    • ein Jahresumsatz von 100 Millionen Franken mit mindestens 5'000 BenutzerInnen erzielt wurde
  • Gleichstellung bedeutet aktive Überwachungspflicht und Vorratsdatenspeicherung

Alle anderen: Duldungspflicht

  • Überwachungsmassnahmen müssen geduldet werden
  • Duldung einschliesslich Zugangsgewährung «zu Gebäuden, Geräten, Leitungen, Systemen, Netzen und Diensten»

Pflicht zur Teilnehmeridentifikation I

  • Gilt zusätzlich zur aktiven Überwachungspflicht
  • Auch für Collaboration, E-Mail, Instant Messaging etc.
  • Ausweispflicht jedoch «nur» bei Mobilfunkdiensten

Pflicht zur Teilnehmeridentifikation II

  • Auch für Anbieter professionell betriebener öffentlicher WLAN-Zugangspunkte
  • «Mit ‹professionell betrieben› ist gemeint, dass eine FDA oder eine auf öffentliche WLAN-Zugangspunkte spezialisierte IT-Dienstleisterin den technischen Betrieb des öffentlichen WLAN-Zugangspunktes durchführt, die dies auch noch für andere öffentliche WLAN-Zugangspunkte an anderen Standorten macht.»

Vorratsdatenspeicherung

    • Provider müssen das Kommunikationsverhalten ihrer KundInnen für 6 Monate festhalten
      • Wer hat mit wem, wann, wie lange und von wo aus kommuniziert?
    • Ursprünglich Kommunikation zwischen Menschen
    • Jedoch ein Datensatz für jede Kommunikation, die ein Smartphone macht

Antennensuchlauf I

  • Rasterfahndung in Vorratsdaten bei Tatverdacht gegen «Unbekannt»
    • Wer war zu einem definierten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort
    • Nur Schnittmengen würden geliefert

Antennensuchlauf II

  • Fall «Rupperswil» ist kein Einzelfall
    • Durchschnittlich 125 mal pro Jahr
    • Ein Fall hat über 30 Funkzellen betroffen
      • Bei einer Zelle betrug der Zeitraum 15 Tage
      • Die Mobilfunkanbieterin hat über 150'000 Verbindungsdaten geliefert

Antennensuchlauf III

  • Es geht nicht um Straftaten im Internet und «gleichlange Spiesse» für die Polizeibehörden
  • Vielmehr werden unsere Smartphones als Ortungswanzen missbraucht

Identifikation von InternetbenutzerInnen I

  • Im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung müssen auch IP-Adressen 6 Monate gespeichert werden
    • Sind für die Kommunikation im Internet notwendig
    • und einem Anschluss zugeordnet (z.B. ADSL-Modem)

Identifikation von InternetbenutzerInnen II

  • IP-Adressen sind beiden Kommunikationspartnern bekannt und werden oft in Serverlogfiles abgelegt
    • Damit lässt sich ein Anschluss eruieren, von dem aus z.B. eine Beleidigung in einem Forum verfasst wurde
    • Da es sich hier offensichtlich um auf Personen beziehbare Daten handelt, dürften diese nur sehr eingeschränkt aufbewahrt werden

Identifikation von InternetbenutzerInnen III

  • Da IP-Adressen knapp sind, werden in Public WLAN und Mobilfunknetzen diese meist geteilt
    • Network Address Translation (NAT)
  • Die Provider müssen diese Übersetzungstabellen ebenfalls 6 Monate aufbewahren
  • «Aktuell geht man in grossen Schweizer Mobilnetzen von etwa einer Milliarde NAT-Übersetzungsvorgängen pro Tag aus» (Quelle: Bund)

Aufzeichnung unserer Internetnutzung I

  • Der Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr (DÜPF) verlangt zusätzlich die Zieladressen zu speichern
  • Mit diesen Daten können
    • die besuchten Webserver und verwendeten Internetdienste einer Person nachvollzogen werden
    • alle BenutzerInnen eines Dienstes oder Servers festgestellt werden

Aufzeichnung unserer Internetnutzung II

  • Welche Provider speichern, ist unbekannt
  • Die Daten sind zur Identifikation grundsätzlich nicht nötig
    • Viele Serverlogfiles speichern allerdings standardmässig «nur» Quell-IP-Adressen und keine -Ports, die für eine Unterscheidung notwendig wären

Teil 1b:
Eidgenössische Strafprozessordnung (StPO)

Eidgenössische Strafprozessordnung (StPO)

  • BÜPF: Pflichten/Aufgaben von Dienst ÜPF und Provider
  • StPO: Möglichkeiten der Untersuchungsbehörden
    • Massnahmen nach BÜPF
    • Zusätzliche Überwachungsmassnahmen

Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs

  • Langer Deliktskatalog (PDF)
    • inkl. Drohung, Nötigung, Schreckung der Bevölkerung
  • Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht

Zugriff auf Vorratsdatenspeicherung I

  • Dringender Verdacht auf ein Verbrechen oder Vergehen
    • Falscher Alarm, Sachbeschädigung, Landfriedensbruch
    • Grobe Verletzung der Verkehrsregeln
    • Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Übertretung)
  • Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht
  • 6 Monate rückwirkend

Zugriff auf Vorratsdatenspeicherung II

Wird eine Straftat über das Internet begangen, so ist die Internet-Anbieterin verpflichtet, der zuständigen Behörde alle Angaben zu machen, die eine Identifikation des Urhebers oder der Urheberin ermöglichen.

Es gibt keine Einschränkungen

Zugriff auf Vorratsdatenspeicherung III

  • Antennensuchlauf
    • Auch mit dem neuen BÜPF (resp. StPO) keine genügende Rechtsgrundlage für Überwachung von noch unbekannten Personen

Zusätzliche Überwachungsmassnahmen

  • Überwachung «Server»
  • IMSI-Catcher
  • Staatstrojaner

Quelle: Staatsanwaltschaft Zürich (PDF, 2015)

Quelle: Staatsanwaltschaft Zürich (PDF, 2015)

IMSI-Catcher

  • Schaltet sich zwischen Handy und Funkantenne
    • «Um Gespräche mitzuhören oder aufzunehmen oder eine Person oder Sache zu identifizieren oder deren Standort zu ermitteln»
    • Auch möglich
      • Unsichtbare Ausweiskontrollen
      • SMS an alle Handys im Empfangsbereich senden

Staatstrojaner I

  • Eingriff in die (digitale) Intimsphäre der Betroffenen
  • Etwas kürzerer Deliktskatalog (PDF)
    • inkl. einfachem Diebstahl
  • Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht

Staatstrojaner II

  • Infektion durch
    • Sicherheitslücken
      • Auf dem Schwarzmarkt besorgen?
      • Und Sicherheitslücke offen lassen?
    • Eindringen in Räumlichkeiten (wie aufspielen?)
    • Mithilfe von Dritten?
      • Infection Proxy, Update-Server, Fahrplan-App, Steuererklärungssoftware (mit Remote-Support)

Mithilfe von Dritten in Strafverfahren

  • Können private Dritte zur Mithilfe beim Einschleusen von Staatstrojanern verpflichtet werden?
  • Strafverfahren kennt
    • Auskunftspflicht, Duldungspflicht, Editionspflicht und Zeugnispflicht
    • Aber: Keine aktive Mitwirkungspflicht

Teil 2:
Geheimdienstüberwachung

Nachrichtendienstgesetz (NDG) I

  • Regelt die «präventive» Überwachung ohne konkreten Verdacht auf eine Straftat
  • Für die Verfolgung von Straftaten oder die Ermittlung bei einem Verdacht auf eine strafbare Handlung sind die Polizeibehörden zuständig

Nachrichtendienstgesetz (NDG) II

  • Seit dem 1. September 2017 in Kraft
  • Massnahmengesetz mit zahlreichen neuen Befugnissen, unter anderem:
    • «Genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen»
    • Kabelaufklärung

Genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen I

  • Überwachungen des Post- und Fernmeldeverkehrs gemäss BÜPF
  • IMSI-Catcher und GPS-Systeme zur Ortung
  • Kameras, Mikrofone und Wanzen auch in Privaträume
  • Eindringen in Computersysteme und Computernetzwerke
    • Staatstrojaner inkl. Online-Durchsuchung
  • Geheime Hausdurchsuchungen

Genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen II

    Zur Erkennung oder Abwehr von
    • Terroristischen Aktivitäten
    • Verbotenem Nachrichtendienst
    • Handel mit Massenvernichtungswaffen
    • Angriffen auf kritische Infrastruktur

Genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen III

  • Nicht bei «gewalttätig-extremistischen Aktivitäten»
  • Jedoch erlaubt, wenn Geheimdienst vom Bundesrat zur Wahrung wichtiger Landesinteressen bei einer schweren und unmittelbaren Bedrohung eingesetzt wurde
  • Genehmigung durch Bundesverwaltungsgericht
  • Freigabe durch VorsteherIn des VBS

Kabelaufklärung ist Weiterentwicklung
der Funk- / Satellitenaufklärung

Funk- / Satellitenaufklärung

  • Funkaufklärung war ursprünglich eine militärische Überwachung von ausländischen Vorgängen
  • Satellitenüberwachung
    • Im Geheimen im Jahr 2000 eingeführt
    • Zwei Berichte von 2003 und 2007 der Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel)
    • Tendenziell ausländische Kommunikation

Kabelaufklärung I

  • «Zur Feststellung, Beobachtung und Beurteilung von sicherheitspolitisch bedeutsamen Vorgängen im Ausland»
  • Da ausländische Kabel nicht überwacht werden können, werden grenzüberschreitenden Leitungen angezapft
  • Bei jeder grenzüberschreitenden Kommunikation ist aber auch jemand aus dem Inland beteiligt

Kabelaufklärung II

  • Befinden sich entweder Sender und/oder Empfänger im Ausland (gemeint sind IP-Adressen), so ist die Verwendung der erfassten Signale zulässig
  • Sodann rastert und beurteilt das Zentrum für elektronische Operationen (ZEO) der Armee die Daten

Kabelaufklärung III

  • «Enthalten die Daten Informationen über Vorgänge im In- oder Ausland, die auf eine konkrete Bedrohung der inneren Sicherheit [durch z.B. gewalttätigen Extremismus] hinweisen, so leitet der durchführende Dienst sie an den Nachrichtendienst [...] weiter.»

Kabelaufklärung IV

  • Ein Überwachungsantrag an das Bundesverwaltungsgericht enthält
    • «Beschreibung des Auftrags»
    • «Begründung der Notwendigkeit des Einsatzes»
    • Angaben zu den «Kategorien von Suchbegriffen» nach denen durchsucht werden soll
    • Auflistung der betroffenen Provider
    • Beginn und Ende des Auftrags

Teil 3:
Fazit - Was können wir tun?

Digitale Selbstverteidigung

  • Schutzmassnahmen
    • Computer-Grundschutz
    • Verschlüsselung
    • Wahl von Messenger, Anbieter & Tools
  • Kein Schutz
    • Handy-Positionsdaten

«Wettrüsten»

  • Überwachung orientieren sich am technisch machbaren
  • Es fehlt eine Überwachungsgesamtrechnung

Beschwerde gegen Vorratsdatenspeicherung

  • 2014: Gesuch an den Dienst ÜPF
  • 2014: Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht
  • 2016: Weiterzug an das Bundesgericht
    • Schriftliche Anhörungen 2017
      • Dienst ÜPF, EDÖB, Swisscom, Digitale Gesellschaft
    • Entscheid 2018
  • Wohl Weiterzug an Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nötig

Zweite Beschwerde: Kabelaufklärung

  • 2017: Gesuch an Nachrichtendienst
  • 2017: Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht
  • 2018: Schriftliche Anhörungen
    • Entscheid 2019?
  • Wohl Weiterzug an Bundesgericht und/oder Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nötig

Vielen Dank für das Interesse

Slides: digiges.ch/slides/ueberwachungsstaat_2018.html

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